Sigurd starb im Mai
1968. Ich war acht Jahre alt, verstand das alles nicht und trauerte. Heute
würde man Kinder mit einer solchen Verlusterfahrung wohl zum Psychologen
schicken.Damals musste man mit dem Abhandenkommen einer wichtigen Identifikationsfigur
alleine fertig werden.
Denn Sigurd entsprang ja nur einem dieser "bunten Heftchen". So wurden
die durchgehend vierfarbigen "Großband-Comics", die aber nur
das Format eines DIN-A5-Schulhefts hatten, damals bei uns zu Hause abschätzig
genannt. Immerhin waren sie geduldet. Das war den Comic-Rezipienten der 50er-Jahre,
die noch das schwarz-weiße Piccolo-Streifenformat erlebt hatten, nicht
vergönnt gewesen.
Wo also war mein ritterlicher Held abgeblieben? Und warum zuckte die gute Tante
Menzel vom Kiosk um die Ecke nur bedauernd mit den Schultern, wenn ich Woche
für Woche nachfragte, ob denn nicht doch wieder Hefte gekommen seien?
Ich musste doch wissen, wie es weiterging! Ob der heimtückische Ritter
Torre Sigurd tatsächlich zu Tode foltern würde. Und ob sein Knappe
Cassim allein etwas gegen eine ganze Burgbesatzung ausrichten können würde.
Im letzten, einer Schriftrolle
nachempfundenen Tableau von Heft Nr. 256 blieben waren perfide, aber spannungs-steigernd
wieder alle möglichen Fragen offengeblieben. Heft Nr. 257 musste her!
Unbedingt!
Doch die Wochen vergingen,
nichts geschah. Der Walter Lehning Verlag war nämlich endgültig pleite.
Das Haus, das 1953 in Hannover zur Keimzelle und für über ein Jahrzehnt
mit weitem Abstand zum Marktführer für Comics in Westdeutschland
geworden war, war abrupt und unrühmlich gescheitert. Und hinterließ
Hunderttausende, meist männliche Kinder und Jugendliche, verstört,
ihrer Helden beraubt, ohne Happy-End. Neben Sigurd waren dies 1968 noch Tibor,
der Sohn des Dschungels, und Falk, der Ritter ohne Furcht und Tadel.
Der kruden Verlagspolitik
von Walter Lehning aber waren zuvor schon viele andere Figuren zum Opfer gefallen:
Akim (Herr des Dschungels),
Jörg (Abenteuer eines tapferen Jungen), Gert (Im Kampf mit Piraten), Nick
(Der Weltraumfahrer und Der Pionier des Weltalls), Bob und Ben (Die fliegenden
Abenteurer) und Roy Stark (Abenteuer ohne Nerven).
Pleitier Lehning hatte
aus unserer Sicht gut daran getan, sich in die Schweiz abzusetzen. Wir Jungs
hätten ihm nämlich damals gerne die Meinung gegeigt. So aber blieb
zunächst nichts übrig, als in Woolworth-Märkten und Kaufhalle-Läden
möglichst viele Wundertüten zu ergattern, in denen die Restbestände
des Lehning-Verlags verramscht wurden. Auf diese Weise konnte man wenigstens
noch die ein oder andere Lücke in der Sammlung schließen.
Doch, wie heißt es so schön? Man begegnet sich immer zweimal im
Leben. Irgendwann stieß ich darauf, dass Sigurd auferstanden war.
Der Comicverrückte
Norbert Hethke hatte in Schönau im Odenwald einen Verlag gegründet
und fing an, die Bildserien aus dem Lehning-Verlag nachzudrucken. Zunächst
für Sammlerzirkel, in einer verwirrenden Editionspolitik. Aber immerhin
so, dass man wenn man erst einmal davon erfahren hatte einzelne
Zyklen auf Flohmärkten halbwegs komplett zusammenbekam.
Von 1980 an konnte Hethke seine Tätigkeit auf juristisch sicheren Grund
stellen und in größerem Stil betreiben. Denn er schloss einen Vertrag
mit Hansrudi Wäscher ab.
Wäscher ist der Mann, der hinter all den genannten Comics des Lehning-Verlags
und deren Helden steht. Der geistige Vater von Sigurd, Tibor & Co. Mit
seiner Tuschefeder hat Hansrudi Wäscher allen Abenteuer-Ikonen der deutschen
Nachkriegszeit ihre Gestalt verliehen.
Ich treffe den heute 83-Jährigen in einer schmucken, nicht luxuriösen
Dachgeschosswohnung, die sehr geschmackvoll, erstaunlich modern und, dem Wesen
ihrer Bewohner entsprechend, aufgeräumt, übersichtlich und geradlinig
eingerichtet ist. Das ist also der Mann, dessen Fantasie und begabter Zeichenhand
die Helden meiner Kindheit entstammen!
2003 hat sich Hansrudi Wäscher dem Breisgau zum Altersruhesitz erkoren.
Hier lebt er zusammen mit seiner gleichaltrigen Gattin Helga, mit der er seit
1954 verheiratet ist. Die beiden hat es aus dem kälteren Norden
über Hannover, Celle, Ratzeburg und Hofgeismar aus Lust und Überzeugung
in den wärmeren Süden gezogen.
Kennengelernt hatten die sich, als die damalige Redakteurin bei Heim und Welt
Illustrationen brauchte und wie es der Zufall so wollte bei Hansrudi
Wäscher landete. Der galt nach einer Plakatmalerlehre und dem Studium
an der Werkkunstschule Hannover schon damals als Mann für alle Fälle.
Was ihm später bei Lehning die fragwürdige Ehre einbrachte, manchmal
binnen einer Woche eine komplett neue Serie entwickeln zu müssen.
Hansrudi Wäscher wurde am 5. April 1928 in St. Gallen geboren. In eine
Familie mit schwer zu entwirrenden deutschen und schweizerischen Wurzeln. Über
Zürich kam er nach Lugano, wo er nicht nur bis zum zwölften Lebensjahr
wohnte, sondern auch die aus Italien hereinschwappenden ersten Streifencomics
kennen- und lieben lernte. Diese sollten später zur Formatvorlage für
die unzähligen Piccolos werden, die er für Lehning zeichnete. Ganz
schlicht, mit Bleistift und Tusche, direkt aufs Zeichenpapier, lange nur schwarz-weiß
und 1:1 in dem Format, in dem die Streifen dann auch gedruckt wurden. Dagegen
waren die Titelbilder schon immer farbig gewesen und Wäscher ließ
sich deren Kolorierung auch nicht nehmen. Die Strips innen aber wurden erst
später farbig gedruckt.
Die Einfärbung von Wäschers Tuschezeichnungen besorgten Verlag oder
Lithoanstalt. Nicht immer zu Wäschers Gefallen. Aber ohne diese Zuarbeit
wäre sein enormes Pensum während der Phase, als Lehning den deutschen
Comicmarkt beherrschte und immer neuen Stoff bei ihm anforderte, nicht zu schaffen
gewesen. Seine blühende Fantasie, der so viele ungewöhnliche Helden,
Tiere, Orte und Pflanzen entsprangen, entwickelte Wäscher auch in der
Luganer Zeit anhand umfangreicher Abenteuerlektüre. Auch wenn der Anlass
eher betrüblich war, da ihn eine Krankheit fast zwei Jahre lang ans Bett
fesselte. Doch er ist diesem Schicksal ob seines späteren Wegs heute nicht
gram. Bis zum Erscheinen der späteren Reprints im Hethke-Verlag wusste
kaum ein Mensch, wer hinter den meisten Figuren des Lehning-Verlages steckte.
Es gab keine Autorenhinweise in den Heften, und Wäscher trat mit der Abgabe
seiner Zeichnungen jeden Montag im Verlagsgebäude an der Ferdinandstraße
in Hannover alle Rechte ab. Bloß kein Aufheben machen! Das war doch nur
ein Broterwerb wie jeder andere. Und besser als der erste Job mit den Kinoplakaten.
Es war doch Nachkriegszeit. Man musste froh sein, mit seiner Passion Geld verdienen
zu können. Und außerdem waren Bildserien damals ja noch keine anerkannte
Kunstform. Im Gegenteil: Sie galten war Schundliteratur, gegen die die Bundesprüfstelle
für jugendgefährdende Schriften in Bonn massiv vorging. In den 50er-Jahren
setzte die Prüfstelle auch immer wieder einzelne Hefte auf den Index.
Oder sie nötigte Wäscher dazu, den ein oder anderen Dolch noch schnell
vor Drucklegung aus einer Brust verschwinden zu lassen oder den ein oder anderen
Frauenbusen züchtiger zu bedecken.
Berühmt sein? Im Rampenlicht stehen? Nein, das sind keine Kategorien,
in denen Hansrudi Wäscher denkt. Und doch oder gerade deshalb kann man
den schmächtigen, unglaublich liebenswürdigen, bescheidenen, aber
extrem akribischen und bienenfleißigen Mann nicht genug würdigen,
ist er doch nicht weniger als der "Pionier der deutschen Comics".
Mit diesem Untertitel ist nun die längst überfällige Werkschau
des wichtigsten, zumindest aber mit Abstand produktivsten deutschen Comiczeichners
erschienen. Geschrieben hat die Biographie der deutsche Comic-Experte Andreas
C. Knigge, Autor wichtiger Standardwerke des Genres und früher Cheflektor
beim Carlsen-Verlag. Sie trägt den Titel "Allmächtiger!"
und ist mit bald 500 großformatigen und reich bebilderten Seiten das
würdige Pendant zu dem kaum überschaubaren Lebenswerk eines Zeichners,
der auch heute am glücklichsten ist, wenn er am Arbeitstisch sitzen und
neue Bilder von Sigurd, Falk oder Fenrir, seiner letzten großen Schöpfung,
einem Fantasy-Abenteuer, zu Papier bringen kann.
Denn Hansrudi Wäscher zeichnet immer noch und besser denn je. Mit
jener Altersweisheit, Lebenserfahrung und Routine, die den wahren Könner
auszeichnet. An seinem Zeichentisch entstehen zwar keine regelmäßigen
Serien mehr, aber immer noch einzelne Blätter für Liebhaber oder
die ein oder andere Geschichte für das deutsche Comic-Zentralorgan Die
Sprechblase. Man hat den Eindruck, dass seit einigen Jahren die Zeit gekommen
ist, in der er seinen Beruf erstmals so richtig genießen kann. Ohne den
ungeheuren Produktionsdruck der 15 Lehning-Jahre, in denen er zeitweise pro
Woche für vier parallel laufende Serien je ein Heft ablieferte, was ihm
1993 einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde einbrachte.
Auch nach dem Lehning-Aus hatte der Druck angehalten: Für den Bastei-Verlag
entstanden bis 1982 insgesamt 142 Episoden als einer der Zeichner von Buffalo
Bill und bis 1986 noch 49 Gespenster Geschichten. Ja, die mit dem Slogan: "Seltsam,
aber so steht es geschrieben". Beides waren nicht unbedingt Herzensangelegenheiten,
und sie wurden eher lieblos editiert, aber es war eben ein durchaus einträglicher
Broterwerb zu faireren Bedingungen als zuvor.
Seinen Lieblingshelden
der Lehning-Zeit näherte sich Wäscher wieder Mitte der 80er-Jahre,
als er für die zunehmenden Nachdrucke bei Hethke laufend neue Titelbilder
liefern musste und dann auch ganz neue Abenteuer auflegen konnte, als dort
der Altstoff ausgeht. Auch wenn er seine großen Helden eigentlich gerne
mit ins Grab genommen hätte, gab Hansrudi Wäscher dem Drängen
von Verleger Hethke letztlich nach und gestattete die Weiterführung seiner
Serien durch andere Zeichner. So lebte Nick ab 1992 durch die Feder des Spaniers
Miguel Bultó-Justs und Sigurd ab 2002 durch Daniel Müller weiter.
Da Wäscher ein ausnehmend höflicher Mensch ist, äußert
er sich heute nicht direkt zu den Werken seiner Nachfolger. Aber auch Schweigen
kann ja sehr beredt sein.
Dabei gibt es noch manches, über das man sich mit Hansrudi Wäscher
gut unterhalten kann: Über das erneut eher unglückliche Ende eines
Comic-Verlages aufgrund der ungeregelten Nachfolge nach dem Tod von Norbert
Hethke 2007, zum Beispiel. Oder darüber, dass sein Werk zwischenzeitlich
so ziemlich jeden deutschen Comic-Preis erhalten hat. Aber auch darüber,
wie er sich freuen kann, wenn man ihm den ersten Sigurd-Zyklus auf dem iPad
zeigt.
Und darüber, wie aus uns ja doch was geworden ist, obwohl wir uns der
verderbten Schundliteratur ausgesetzt hatten und dies daran liegen könnte,
dass Wäschers Helden stets von Ritterlichkeit und einem klaren Wertekanon
geprägt waren und aufklärerisch wirkten, indem sie immer wieder Versuche
der Herrschenden entlarvten und diese bloßstellten, wenn sie einfache
Leute durch Aberglaube, Magie oder Zauberei an der Nase herumführen wollten.
Darüber, wie die imaginative Kraft der Science-Fiction-Abenteuer von Nick
(ab 1957) ihrer Zeit um Lichtjahre voraus war und die Vorlage für all
die anderen von Perry Rhodan (ab 1960) bis zu Orion und Star Trek (beide ab
1966) lieferte. Oder wie ähnlich die Raks, die Flugtiere, auf denen Tibor
reitet, jenen aus Avatar sind. Und wie die Saurier und die durchgeknallten
Wissenschaftler verschiedener Wäschergeschichten die Folie für Jurassic
Park abgeben.
Und darüber, dass er in den Großbänden als Erster in großem
Stil die strenge Ordnung der bis dato fast nur rechtwinklig-viereckig organisierten
Strips aufbricht und mit immer schrägeren und an den jeweiligen Inhalten
orientierten Bildschnitten eine Dynamik in die Comicwelt bringt, die Film und
Fernsehen erst nach und nach antizipieren und ihn zum Wegbereiter der Bildsprache
japanischer Mangas macht.
Oder über den Gedanken, dass Wäscher der Erfinder des Cliffhangers
ist, der in Hollywood-Action-Filmen und Echtzeit-Serien wie "24"
zur Perfektion getrieben wurde. Also jener Methode, die Spannung in jeder Episode
so lange zu steigern, bis man es kaum noch aushält, aber auf der letzten
Seite dann nur zu Lesen bekommt: ...
Fortsetzung folgt |